EUKI-Interview: Minderung der negativen Gesundheits­auswirkungen des Gesundheitssektors

von Luciana Lerho und Anselm Bareis, GIZ/EUKI

Wir haben mit Mireia Figueras Alsius gesprochen, Klimabeauftragte von Health Care Without Harm (HCWH) Europe und Teil des EUKI-Projekts „Klimafreundliche Gesundheitsversorgung im Mittelmeerraum“ . Das Projekt zielt darauf ab, den ökologischen Fußabdruck des europäischen Gesundheitssektors zu verringern und den Übergang zu einer klimafreundlichen Gesundheitsversorgung zu fördern. Zwar ist der Gesundheitssektor weltweit einer der größten Nettoemittenten von Treibhausgasen, doch wird er bei der Festlegung verbindlicher nationaler Klimapläne oft übersehen. Gleichwohl ist Mireia optimistisch, dass es gelingt, den Gesundheitssektor auf Kurs zu bringen, so dass er innerhalb eines Zeitraums klimaneutral wird, der mit dem Klimaschutzabkommen von Paris vereinbar ist.

Veröffentlicht: 03. November 2020
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Mireia, Ihr EUKI-Projekt zielt darauf ab, den Klimafußabdruck des Gesundheitssektors zu verringern. Weshalb ist das so wichtig?

Die Aufgabe des Gesundheitssektors besteht darin, die Gesundheit zu schützen und zu fördern, doch die klimaschädlichen Tätigkeiten im Gesundheitssektor laufen diesem Ziel zuwider. Das ist paradox. Der globale Klimafußabdruck des Gesundheitswesens entspricht 4,4 % der weltweiten Netto-Emissionen – wäre der Gesundheitssektor ein Land, wäre er der fünftgrößte Treibhausgasemittent der Welt.

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Mireia Figueras Alsius (c) privat

Der Klimawandel ist die größte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit im 21. Jahrhundert (The Lancet), denn der Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur führt nicht nur zur Häufung von Extremwetterereignissen, sondern auch zur Ausbreitung von vektorübertragenen Krankheiten. Beide Entwicklungen bedrohen die menschliche Gesundheit, die Resilienz des Gesundheitssektors sowie die Versorgung der Bevölkerung in Krisensituationen. Daher muss der Gesundheitssektor eine führende Rolle bei der Verringerung der Treibhausgasemissionen übernehmen.

Wäre der Gesundheitssektor ein Land, wäre er der fünftgrößte Treibhausgasemittent der Welt.

Mireia Figueras Alsius, HCWH

Was sind die größten Herausforderungen für den europäischen Gesundheitssektor auf dem Weg zur Klimaneutralität?

Derzeit haben die Krankenhausverwaltungen nicht die Aufgabe, Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen zu treffen und entsprechende Initiativen in die Gesundheitsplanung zu integrieren. So gibt es keine rechtsverbindlichen nationalen Top-Down-Pläne für die Verringerung des CO2-Ausstoßes und entsprechende Klimaschutzmaßnahmen im Gesundheitssektor. Jeder europäische Staat hat sein eigenes Gesundheitssystem mit eigenen Strukturen und Schwerpunkten. Die Systeme unterscheiden sich im Hinblick auf die angewendeten Modelle sowie die politischen Rahmenbedingungen, was die Entwicklung eines harmonisierten europäischen Plans für die Dekarbonisierung des Gesundheitssektors zu einer echten Herausforderung werden lässt.

Eine weitere Herausforderung bei der Realisierung eines Bottom-up-Konzepts besteht darin, dass keine ausreichenden Daten für die Festlegung von Zielen und Benchmarks vorhanden ist. Es gibt keine Grundlage für die Festlegung von Klimazielen für den Gesundheitssektor, keine gemeinsame Methode zur Bestimmung von Baselines und kein europaweit gültiges Rahmenwerk für die Berichterstattung zu Treibhausgasemissionen im Gesundheitswesen. Dies ist ein Problem, denn ohne verlässliche Datengrundlage lassen sich keine Veränderungen herbeiführen.

Eine weitere, unmittelbare Herausforderung ist der Zeitdruck. Denn es gilt, unverzüglich zu handeln – vieles deutet darauf hin, dass die nächsten 10 Jahre entscheidend sein werden.

Welche konkreten Maßnahmen treffen Sie zur Bewältigung dieser Herausforderungen im Rahmen Ihres Projekts und welche Wirkungen wollen Sie erzielen?

Health Care Without Harm Europe unterstützt fünf Krankenhäuser im Mittelmeerraum bei der Entwicklung von CO2-Managementplänen. Wir helfen unseren Partnern dabei, das Problem zunächst zu quantifizieren. Dazu ermitteln wir den derzeitigen CO2-Fußabdruck und leisten anschließend Unterstützung bei der Anpassung der Minderungsziele, der Beschreibung des Business Case sowie bei der Festlegung von zielführenden Maßnahmen. Das Projekt verfolgt einen Bottom-up-Ansatz und unterstützt die teilnehmenden Krankenhäuser bei der Festlegung ihrer Minderungsziele sowie bei der Entwicklung von entsprechenden Aktionsplänen.

Darüber hinaus umfasst das Projekt eine Upscaling-Komponente, mit der Konzept und Vorgehensweise in der gesamten Region repliziert werden sollen. Dazu wurde ein entsprechender Werkzeugkasten entwickelt, der von anderen Krankenhäusern genutzt werden kann. Dies trägt dazu bei, den Mittelmeerraum zu einer Best-Practice-Region für eine klimafreundliche Gesundheitsversorgung in Europa zu etablieren.

Eine weiterer Output des Projekts sind Empfehlungen für die politisch Verantwortlichen im Hinblick auf die Gesetzesänderungen, die notwendig sind, um einen Kurswechsel des Gesundheitssektors in Richtung Klimaneutralität herbeizuführen. Es ist wichtig, dass wir durch geeignete Top-Down-Initiativen Überzeugungsarbeit leisten und ein Narrativ rund um Klima- und Gesundheitsschutz entwickeln, um dafür zu sorgen, dass der Gesundheitssektor in den nationalen und europäischen Klima- und Energieplänen berücksichtigt wird.

Es ist wichtig, dass wir durch geeignete Top-Down-Initiativen Überzeugungsarbeit leisten und ein Narrativ rund um Klima- und Gesundheitsschutz entwickeln, um dafür zu sorgen, dass der Gesundheitssektor in den nationalen und europäischen Klima- und Energieplänen berücksichtigt wird.

Mireia Figueras Alsius, HCWH

Sie arbeiten hauptsächlich mit Krankenhäusern in der Mittelmeerregion zusammen. Weshalb liegt der Fokus auf Südeuropa?

Bei HCWH arbeiten wir mit Krankenhäusern, Gesundheitsdienstleistern und Gesundheitssystemen in den 53 Ländern, die von der Weltgesundheitsorganisation als Region Europa definiert sind. Für dieses spezielle Projekt haben wir uns für eine Zusammenarbeit mit Südeuropa und insbesondere mit dem Mittelmeerraum entschieden, weil in dieser Region besondere Herausforderungen, Chancen und Gefahren auf dem Weg zu einer klimaneutralen Gesundheitsversorgung bestehen. Die Sommer in dieser Region sind in der Regel heiß und trocken, die Winter dagegen mild. Das bedeutet, dass die Gesundheitseinrichtungen auf Klimaanlagen und Kühlsysteme angewiesen sind. Dies führt unabhängig von der Jahreszeit zu Strombedarfsspitzen.

Ferner besitzt Südeuropa beträchtliches ungenutztes Potenzial für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien (insbesondere Sonnen- und Windenergie). Damit könnten die betreffenden Länder ihren Strombedarf decken, ihre Wirtschaft ankurbeln, den Treibhausgasausstoß deutlich senken und schnelle Fortschritte auf dem Weg zur Klimaneutralität erzielen.

Außerdem ist der warme Mittelmeerraum stärker von Extremwetterereignissen betroffen, insbesondere von Hitzewellen, wie wir sie im letzten Jahrzehnt bereits in ganz Europa erlebt haben. Diese Extremwetterperioden stellen die Resilienz der Gesundheitssysteme auf die Probe. Das Projekt zielt darauf ab, die die bestehenden Chancen und Herausforderungen anzugehen und den Übergang zu einer klimafreundlichen Gesundheitsversorgung in der Region zu fördern.

Inwieweit beeinträchtigt die Coronakrise Ihre Arbeit mit Krankenhäusern und anderen Akteuren des Gesundheitswesens?

Die Coronapandemie hat zu Recht Priorität für den Gesundheitssektor und unsere Projektpartner – sie hat nicht nur unsere Arbeit, sondern unseren gesamten Alltag beeinträchtigt. Die Krankenhäuser stehen in dieser Krise an vorderster Front und kümmern sich um die Schwächsten in der Gesellschaft. Daher haben wir mehrere unserer geplanten Aktivitäten neu gestaltet und online gestellt, damit sich die Krankenhäuser und Akteure des Gesundheitswesens auf die Bewältigung der Gesundheitskrise konzentrieren können.

Die anhaltende Pandemie hat die Parallelen zwischen COVID-19 und der Klimakrise deutlich werden lassen und den Gesundheitssektor in den Fokus gerückt. In den letzten Monaten haben wir festgestellt, dass bei den europäischen Gesundheitsdienstleistern das Interesse an Maßnahmen zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks ihrer Tätigkeit wieder zunimmt. Die Coronapandemie hat dazu geführt, dass eine entschlossene Führung auf allen Ebenen heute wichtiger ist als je zuvor, um die europäischen Gesundheitssektoren nachhaltig, resilient und gerechter zu machen.

Ich denke […], dass der Gesundheitssektor im Jahr 2030 auf dem richtigen Weg ist, um innerhalb eines Zeitraums klimaneutral zu werden, der mit den dem Klimaschutzabkommen von Paris vereinbar ist.

Mireia Figueras Alsius, HCWH

Als letzte Frage würden wir gerne einen Blick in die Kristallkugel werfen: Wo sehen Sie den Gesundheitssektor im Jahr 2030 in Bezug auf den Treibhausgasausstoß  verglichen mit Sektoren wie Energie oder Mobilität, die stärker ins Visier genommen werden?

Wir sehen, dass der Gesundheitssektor sich der Problematik immer stärker annimmt. Wir versuchen, Führungskräfte und Entscheidungsträger im Gesundheitswesen über die Bedeutung der Zusammenhänge zwischen Klima und Gesundheit aufzuklären und entsprechend zu beeinflussen. Außerdem arbeiten wir mit Experten für Nachhaltigkeit, Führungskräften, Ärzten und Pflegepersonal zusammen. Dabei stellen wir fest, dass das Bewusstsein für die Bedeutung des Gesundheitssektors bei der Bewältigung des Klimawandels allmählich zunimmt. Bis 2030 sollten wir die Zusammenhänge zwischen Klima und Gesundheit gut verstehen und geeignete Strategien und Aktionspläne umsetzen. Ich denke also, dass der Gesundheitssektor im Jahr 2030 auf dem richtigen Weg ist, um innerhalb eines Zeitraums klimaneutral zu werden, der mit den dem Klimaschutzabkommen von Paris vereinbar ist. Erst vor kurzem ist der englische National Health Service (NHS) mit gutem Beispiel vorangegangen: Der NHS hat sich als erstes Gesundheitssystem der Welt zum Ziel der Klimaneutralität bis 2040 bekannt!

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